„Ich kann mehr“
Sebastian Hofer über Mathias Mehrwald, Rollstuhl-Tänzer bei „Ich bin O.K.“
Mathias Mehrwald hat – wie jeder Mensch bezeugen kann, der mit ihm mehr als zwei Sekunden verbracht hat – ein fantastisches, herzerwärmendes und unwahrscheinlich ansteckendes Lachen. Man könnte es fast als Kudern bezeichnen. Gefüttert wird es von einer herrlich uneitlen Form von Selbstironie.
Mathias ist sich seiner fallweisen Schusseligkeit bewusst, macht kein Geheimnis, aber auch kein Drama daraus. Manchmal verzieht er das Gesicht dabei, als hätte er von einer Zitrone genascht, zum Beispiel bei der Geschichte, als er einmal vom ORF interviewt worden ist, aber leider vergessen hat, die Sendung aufzuzeichnen.
Mein Gedächtnis muss trainiert werden. Wenn ich mir Dinge nicht aufschreibe, sind sie weg. Momentan bin ich leider in einer verzwickten Lage: Mein Kalender löst sich schon auf, und es ist erst Ende November. Aber er war schon so schirch, dass ich gesagt habe: Weg damit! Jetzt muss ich noch ein paar Wochen durchhalten bis zum neuen Jahr und zum neuen Kalender.
Bis es so weit ist, kann es vorkommen, dass Mathias Termine verpasst. Aber halb so schlimm. Mathias lacht, man muss mitlachen. Und dann merkt man: Er hat gerade eine große Lebensweisheit ziemlich gelassen ausgesprochen. Am Ende ist immer alles halb so schlimm.
Mathias Mehrwald ist 31 Jahre alt und hat Spina bifida. Er spricht in gewählten Worten und korrekter Zeitenfolge, verwendet gern das Präteritum und hat manchmal Schwierigkeiten, den richtigen Begriff zu finden, aber er findet ihn. Er sitzt im Rollstuhl und arbeitet seit drei Jahren in einem Seniorenheim der Caritas als Sozialbegleiter.
Meine Haupttätigkeit ist, mit den Bewohnern in Kontakt zu bleiben und den Tag zu verbringen, damit denen nicht langweilig wird.
Wohnungsschlüssel und Geldbörse hat er an einer langen Schnur an seinem Rollstuhl befestigt, sicher ist sicher. Einmal pro Woche kommt er ins Tanzstudio. Wie lange schon? Kurzes Grübeln.
Das ist sehr lange her. Es weiß ehrlich gesagt niemand genau, wie lange. Ich habe die Gründerin von „Ich bin O.K.“ bei einer inklusiven Disko kennengelernt. Dann hat sie gemeint, ich soll dabei sein.
Der Kontakt kam über eine Lehrerin in Mathias’ ehemaliger Schule zustande, die ihm vorschlug, er solle sich das doch einmal näher anschauen. Er hat es sich angesehen, es hat ihm gefallen.
So hat das eigentlich angefangen.
Heute kommt er jeden Freitag ins Tanzstudio. Was bedeutet ihm Ich bin O.K.?
Spaß haben, meine Ideen tänzerisch darstellen.
Was genau macht er in der Tanzstunde? – „Zuerst wärmen wir uns auf, meistens mit rhythmischen Übungen. Dann spielt die Pädagogin am Klavier eine rhythmische Melodie, wir bewegen uns durch den Raum und studieren eine Choreografie ein. Jedes zweite Jahr hat der Verein einen Auftritt.“
Die öffentlichen Auftritte, das wird schnell klar, sind Mathias ein besonderes Anliegen. Sie sind für ihn ein Ansporn, etwas zu wagen.
Vor vier Jahren hatten wir einen Auftritt, der hieß ‚Aladins Erkenntnis’, da wurde mir klar: Jedes Mal im Rollstuhl zu sitzen ist langweilig. Ich kann mehr.
Bei der Produktion des Tanzstudios im Frühjahr 2019 durfte Mathias eine Hauptrolle übernehmen, in einigen Szenen auch ohne Rollstuhl.
Wir hatten im Programm ‚Die Zauberflöte’, allerdings drehten wir den Titel um und nannten es ‚Flötenzauber’. Drei Mal durfte ich den Tamino spielen. Den Text weiß ich heute noch auswendig. In der Vorbereitung hatten wir jeden Tag zwei Stunden lang Probe.
Wenn er nicht arbeitet oder tanzt, bummelt Mathias gern durch die Stadt, sieht sich Wien und die Wiener an, oder er verbringt Zeit mit seiner Familie, mit seiner Mutter, seinen beiden Geschwistern und deren Kindern. Regelmäßig spielt er außerdem Klavier. Seit zwölf Jahren wohnt Mathias in einer vollbetreuten Wohngemeinschaft, das kann manchmal auch anstrengend sein. – „Da ist immer etwas los. Darum versuche ich, eine kleinere WG zu finden. Einfach weil es ruhiger ist.“
Bevor er berufstätig wurde, besuchte Mathias eine Tagesstruktur. – „Meine Eltern dachten, ich könnte dort etwas lernen. Aber ich war dort am Ende nicht mehr zufrieden. Dort kann man eigentlich nur die Däumchen drehen, sage ich mal.“
Mathias lacht, man muss mitlachen. Über ein Vermittlungsangebot von Jugend am Werk kam er an einen Job in einem privaten Kindergarten, „aber leider Gottes ist es so, dass der aus Geldgründen geschlossen werden musste.“
Aber, wie gesagt: halb so schlimm. Der neue Job im Seniorenheim ist eh besser, auch zeitlich gesehen. „Im Kindergarten war ich jeden Tag von 10 bis 18 Uhr. Im Winter war es danach schon finster und oft auch waren viele Wege nicht geräumt – manchmal eine ziemliche Belastung.“
Heute arbeitet Mathias 19 Stunden in der Woche, daneben bleibt noch Zeit für Bummeln, Familie und Klavier – und für die Politik. „Ich bin politisch interessiert und sogar Mitglied bei einer Partei, und zwar bei den Grünen.“ Die SPÖ komme aus praktischen Gründen nicht in Frage: „Die SPÖ ist in Wien für die Straßenbahnen zuständig und verzögert seit Jahren, dass alle Straßenbahnen barrierefrei werden. Ich als Rollstuhlfahrer versuche immer, den kürzesten Weg zu finden. Aber es gelingt nicht immer. Viele Verkehrsmittel kann ich nicht benutzen.“ Mathias nimmt es nicht so dramatisch, aber: „Es ist wichtig, dass meine Meinung vertreten wird.“
Mathias Mehrwald kann mehr. Man muss ihn aber schon auch lassen.
Aus „Ein Buch über das andere Tanzen“ von Horak/Mayr
Der Fotograf Philipp Horak und die Grafikerin Marion Mayr sind Eltern zweier „Ich bin O.K.“-TänzerInnen und wollen mit diesem Buch den Verein feiern. Sie haben Menschen, die „Ich bin O.K.“ angehören, porträtiert und einen Rückblick auf inspirierende und bewegende Jahre geschaffen.
- Mit vielen Fotos von Philipp Horak
- Vorwort von Bundespräsident Alexander Van der Bellen
- Interview mit Gründerin Katalin Zanin
- Porträt des Vereins von Maria Dinold, Helga Neira Zugasty und Hana Zanin Pauknerová
- Porträts der Mitglieder Mathias Mehrwald, Niklas Kern, Clara Horvath & Mike Brozek
- Interview mit dem Tänzer, Tanzpädagogen und Choreographen Kirin España-Orozco
- „Ich bin O.K.“-Chronologie
Erhältlich um EUR 35,– über den Verlag Hollinek (zuzüglich Versandkosten).
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